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Graffiti

Culture

VERÖFFENTLICHT
2024/25

TEXT
Harald Sager

Click & Learn
Graffiti

Spotlight

Zu Graffitis haben alle eine starke Meinung. Die einen empfinden sie als Ausdruck von Freiheit und Kreativität, die anderen als Schmierereien. Schauen wir uns das Thema einmal von allen Seiten an! 

Können wir uns alle darauf einigen, dass Graffitis eine gute Sache sind? Auf keinen Fall! Sind wir also einer Meinung, dass sie eine schlechte Sache sind? Nein, nein, nein! Okay, halten wir also fest, dass sie ein umstrittenes Thema sind. Zu Graffitis haben alle eine starke Meinung: Sie befinden sich im öffentlichen Raum, sind gut sichtbar, und wenn wir mit offenen Augen durch unsere Städte gehen, ist es so gut wie unmöglich, dass wir ihnen nicht begegnen.

Genau hier liegt auch der Kern der Debatte oder der Kontroverse: am Begriff des öffentlichen Raums. Denn niemand wird bestreiten, dass die Menschen in ihren privaten Wohnungen tun und lassen können, was sie wollen. Sie können sie sauber halten oder verlottern lassen. Sie können sich Gemälde an die Wände hängen oder darauf herumkritzeln – wen stört’s? Niemanden.

Aber für den öffentlichen Raum gilt das nicht genauso uneingeschränkt. Da gibt es Gegenstimmen. Die einen – und das sind oft eher die Älteren – finden: Weil der öffentliche Raum allen gehört, sollten alle aufeinander Rücksicht nehmen. Und vielen gefallen Graffitis einfach nicht. Sie empfinden sie als Kritzeleien, als Schmierereien und finden, dass sie Hausfassaden und Ähnliches verschandeln. Und außerdem sind sie ja gar nicht legal. Das heißt, es ist gesetzlich nicht erlaubt, ein Graffiti einfach so irgendwo hinzusprühen.

Die anderen – meistens eher die Jüngeren – sagen, dass der öffentliche Raum uns allen gehört und damit auch jeder*jedem Einzelnen von uns. Also kann und soll er auch nach Lust und Laune verändert werden können. Alle sollen sich dort so austoben, wie sie wollen. Wer Lust hat, Graffitis zu sprühen, soll das ruhig tun – warum auch nicht?

Aber wovon reden wir überhaupt? Gehen wir doch zuerst einmal durch, was Graffitis sind.

Wovon reden wir überhaupt? 

Graffitis sind Schriftzeichen und Illustrationen, die auf Wände und Oberflächen im öffentlichen Raum gesprayt werden. Wer auf dem Land, in einer Ortschaft oder einer Kleinstadt wohnt, wird Graffitis eher weniger oft sehen. Aber alle, die in einer größeren Stadt leben, können sie tagtäglich und an vielen Orten entdecken. Und wer einmal aufmerksam darauf geworden ist, wird feststellen: Die sind ja fast überall – auf Hauswänden, auf Verteilerkästen und Parkbänken, auf Haltestellen und Bahnhöfen, auf Brücken und Stützpfeilern …

Man muss kein*e professionelle*r Kunstbetrachter*in sein, um festzustellen: Bei der Qualität der Graffitis gibt es Riesenunterschiede. Am unteren Ende der Skala ist es nicht viel mehr als Gekritzel oder Schmierage. Am oberen ist es Kunst, die von echten Könner*innen geschaffen wird. Das ist vermutlich einer der Hauptgründe dafür, dass man zu Graffitis so völlig gegensätzliche Meinungen haben kann.

Übrigens, man sagt „das Graffiti“ in der Einzahl und „die Graffitis“ in der Mehrzahl. Das ist zwar grammatikalisch nicht richtig, weil es ein italienisches Wort ist, und auf Italienisch ist „graffito“ die Einzahl und „graffiti“ die Mehrzahl. Aber wollen wir nicht so kleinlich sein: So hat es sich halt eingebürgert.

Tags, Throw-ups, Pieces – welche Arten von Graffitis gibt es?

Die meisten, die uns im Straßenbild auffallen, sind kurze Schriftzüge bzw. Signaturen, so etwas wie persönliche Unterschriften. In der Szenesprache nennt man sie „Tags“. Das ist das englische Wort für „Etiketten“ oder „Markierungen“.

Mit den Tags, die möglichst individuell und wiedererkennbar gestaltet sein sollten, machen die Sprayer*innen auf sich aufmerksam. Sie werden in der Szene bekannter und machen sich einen Namen. Tags sind quasi die „Markenzeichen“ oder Pseudonyme der Sprayer*innen: So bleiben sie anonym und werden trotzdem wiedererkannt.

Man sagt übrigens nicht „Sprayer*in“, sondern „Graffiti-Writer*in“. Sprayer*in ist das Wort, das Außenstehende verwenden. Graffiti-Writer*in ist also das richtige Szenewort, und hoppla, es heißt auch nicht Szene, sondern „Community“.

Ein anderes Wort für Graffiti-Writing ist „Style-Writing“. Dabei geht es darum, dass Writer*innen einen ganz eigenen, originellen Stil entwickeln, der von den anderen in der Community wiedererkannt und geschätzt wird. Wenn Writer*innen bekannt werden, erlangen sie „Fame“ – das englische Wort für Ruhm. Diejenigen, die an den besten Locations (Orten) die meiste Aufmerksamkeit bekommen, sind „Kings“ oder „Queens“.

Aufwendiger und detaillierter als die Tags sind die „Throw-ups“. Das sind Graffitis, die aus kurzen Buchstabenfolgen bestehen. Sie werden sozusagen rasch auf die Wand „hingeworfen“ – deswegen heißen sie auch Throw-ups. Dass man die Wörter oft fast nicht lesen kann, ist Absicht: Je verfremdeter, je origineller und „schräger“ sie sind, desto besser.

Die Graffitis, die am größten und am ausführlichsten gestaltet sind, nennen sich „Pieces“. Auch sie gehen oft von Buchstaben aus, sind aber noch stärker verfremdet; beispielsweise mit vielfachen Verschränkungen der einzelnen Buchstaben. Andere haben gar nichts mehr mit Schriftzügen zu tun. Sie sind bunte Bildflächen, die so energiegeladen wirken, als würden sie geradezu explodieren. Die einen sehen mehr nach „Fantasy“ aus, die anderen mehr nach Comics, wieder andere sind abstrakter. Die Themen sind grenzenlos, und daher ist das von der Definition her kein Style-Writing mehr, sondern einfach Graffiti-Kunst.

Während normale Gemälde im Wohnzimmer, in der Galerie oder im Museum zu Hause sind, finden sich Graffitis auf der Straße: Sie sind eine der Ausdrucksformen von „Street-Art“ oder „Urban Art“, also von Straßenkunst oder Kunst im öffentlichen Raum.

Dazu gehören auch „Murals“, also Wandmalereien, die oft sehr groß sein können. Z.B. bedecken sie Feuermauern von mehrstöckigen Gebäuden. Murals und künstlerische Graffitis werden oft von professionellen Künstler*innen ausgeführt. Den Auftrag bekommen sie von den jeweiligen Hausbesitzer*innen. Das kann ein Privatmensch sein, ein Unternehmen, eine Organisation, eine Behörde oder eine Gemeinde.

Viele der Murals-Künstler*innen kommen von der Graffiti-Kunst. Sie verstehen sich selbst als Künstler*innen und werden auch von der Bevölkerung so wahrgenommen. Ja, die meisten Bürger*innen finden Murals gut. Vor allem weil sie Orte verzieren, die sowieso nicht unbedingt schön sind, wie etwa Feuer- und sonstige Mauern, Lärmschutz- und andere Wände.

Darf das sein? 

Für viele gehört es zum Graffiti-Writing dazu, dass es illegal ist. Sie suchen den Thrill, die Spannung, und es besteht ja auch das Risiko, dass sie dabei erwischt werden.

Das klingt zwar cool und nach Abenteuer, aber es muss gesagt werden: Alle, die unerlaubt auf eine Hausfassade, auf einen Zugwaggon, in einer Haltestelle, auf eine Wand oder sonst wo sprayen, begehen eine strafbare Handlung. Sie können wegen Sachbeschädigung angeklagt werden. Wenn sich Privatpersonen, beispielsweise Hausbesitzer*innen, geschädigt fühlen, können sie zusätzlich auf Hausfriedensbruch klagen.

Der öffentliche Raum gehört, rein rechtlich gesehen, eben nicht allen. Teile davon sind im Besitz von Personen oder Institutionen: ein Zinshaus, dessen Fassade besprüht wird, hat oft mehrere private Eigentümer*innen, Straßenbahnstationen gehören den Wiener Linien oder anderen Verkehrsbetrieben, Bahnstationen, Züge und Gleisgelände gehören den ÖBB usw.

Die österreichischen Behörden haben erkannt, dass viele junge Leute das Bedürfnis haben, sich mit ihren Spraydosen künstlerisch auszudrücken oder auch auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Deshalb werden in allen Landeshauptstädten (außer Eisenstadt) Flächen zur Verfügung gestellt, an denen das Graffiti-Sprayen erlaubt ist. Diese Locations sind mit einem Symbol gekennzeichnet, in Wien ist das die „Wiener Taube“. Warum? Weil Tauben ein genauso umstrittenes Thema sind wie Graffitis: Die einen lieben und füttern sie, die anderen würden sie am liebsten vergiften.

Das hat’s immer schon gegeben!

Graffitis sind ein altes Phänomen, und laut Wikipedia sollen die ersten bereits im alten Ägypten entstanden sein. Sie wurden an verschiedenen Bauwerken, z.B. Tempeln oder Statuen, in den Stein geritzt. Auch damals waren Graffitis schon flüchtige, vergängliche Erscheinungen. Deshalb sind die meisten Graffitis aus der Antike verloren gegangen.

Aber in Pompeji sind zahlreiche erhalten geblieben. Denn die Stadt südlich von Neapel wurde im Jahr 79 n. Chr. bei einem Ausbruch des Vulkans Vesuv verschüttet. Während der archäologischen Freilegungsarbeiten kamen auch die Graffitis, die vor fast 1.950 Jahren die Hauswände von Pompeji bedeckten, wieder ans Licht.

Die Themen sind etwas andere: Es sind keine persönlichen Signaturen, sondern – manchmal kunstvoll geschriebene – kurze Texte und hie und da auch Zeichnungen. Die Sprüche sind teils lustig, teils scherzhafte Beleidigungen oder Schmähworte gegen andere. Manche sind Liebeserklärungen, andere sind so ähnlich wie Klosprüche, sprich derb, ordinär und nicht „jugendfrei“. Das alles kennen wir heute auch. Aber es sind auch Gedichte darunter: Wer schreibt heutzutage ein Gedicht an die Wand – noch dazu ein selbstverfasstes? Danach wird man lang suchen!

Der früheste „Tagger“ – sprich Graffiti-Writer, der nur seinen Namen hinkritzelt – hierzulande war Joseph Kyselak. Er lebte Anfang des 19. Jahrhunderts, war ein großer Wandersmann, und wo immer er hinkam, hinterließ er seinen eingeritzten Namen. Er war wirklich unverbesserlich: Als Kaiser Franz I. ihn einmal zu sich rufen ließ und ermahnte, dass er künftig nie wieder „taggen“ dürfe, entdeckte er hinterher einen eingravierten „Kyselak“ auf seinem Schreibtisch!

Graffiti

Zahlen & Fakten

Wie denken die Leute eigentlich über Graffitis? Machen sie einen Unterschied zwischen legal und illegal? Wie viele „Sachbeschädigungen“ durch Graffitis werden jährlich angezeigt? Und wo und an wie vielen Orten kannst du dich völlig legal als Graffiti-Writer*in betätigen? Hier steht’s. 

57 Prozent

Laut einer Erhebung des Kuratoriums für Verkehrssicherheit (KFV) gaben 57% der Befragten an, in den letzten zwei Jahren in ihrem unmittelbaren Umfeld von Graffitis „betroffen“ gewesen zu sein. Legale Graffitis und Street-Art wurden überwiegend positiv beurteilt, illegale mehrheitlich negativ. 

Quelle

Graffitis im Fokus der Polizei bundeskriminalamt.at

8 „Legale Wände“

In allen Bundesländern außer dem Burgenland gibt es „Legal Walls“ bzw. „Legale Wände“. An diesen darf ganz offiziell und straflos gesprayt werden. Legal Wall ist dabei ein Oberbegriff: In Wien sind beispielsweise 26 entsprechende Orte vorhanden, in Niederösterreich 17, in Tirol 13 usw. 

Quelle

Legal Walls Austria spraycity.at

4.000 bis 5.000 Anzeigen

In Österreich werden jährlich zwischen 4.000 und 5.000 „Sachbeschädigungen“ – so der juristische Ausdruck – durch Graffitis zur Anzeige gebracht. 

Quelle

Graffitis im Fokus der Polizei bundeskriminalamt.at

3,1 Millionen Euro

So hoch ist der Schaden, der den Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) im Jahr 2023 durch illegale Graffitis auf ihren Zügen entstanden ist. Die Schadenshöhe ergibt sich aus den Kosten für die Reinigung und den Stehzeiten der Waggons. Jedes einzelne Graffiti wird dokumentiert und angezeigt. Abgesehen davon ist es nicht erlaubt, sich außerhalb der öffentlichen Bereiche auf den Bahnanlagen aufzuhalten.

Mag. Daniel Pinka, der Pressesprecher der ÖBB, weist auch darauf hin, dass sich die Sprayer*innen in Lebensgefahr bringen. Denn erstens stehen die Oberleitungen unter 15.000 Volt Spannung: Auch wenn man sie gar nicht berührt, sondern ihnen nur zu nahe kommt, kann eine*n ein tödlicher Stromschlag treffen. Und zweitens werden Züge auch nachts oft verschoben und können sich lautlos und unbemerkt nähern. 

Graffiti

Im Gespräch mit ...

Wer sind die Stars in der österreichischen Graffiti-Szene? Wie wird man eigentlich Graffiti-Artist? Und wie steht die Community zu legalen und illegalen Graffiti-Flächen? Diese und viele andere Fragen haben wir Stefan Wogrin, ein „Urgestein“ der österreichischen Graffiti-Community, und den in Wien lebenden Graffiti-Künstler Colin Linde gefragt und spannende Antworten erhalten.

Stefan Wogrin

Stefan Wogrin betreibt die Internet-Plattform Spraycity und dokumentiert Graffitis.

© Stefan Wogrin

Stefan Wogrin SW, ein „Urgestein“ der österreichischen „Sprayer*innen-Community, betreibt die Internet-Plattform Spraycity. Wir haben ihn gefragt, was Graffitis bedeuten, was die Writer*innen motiviert, warum die einen legal, die anderen lieber illegal sprayen und wie die Community „tickt“.

 

MN Wie groß ist die Community der Graffiti-Writer*innen in Österreich? 

SW Ich schätze, dass es in Wien etwa 1.000 Leute sind, in den Landeshauptstädten weniger, da sind es ca. 20 bis 50 in jeder Stadt. Viele kennen sich untereinander, und es gibt jetzt auch mehr Graffiti-Writerinnen. Früher waren es hauptsächlich Burschen bzw. junge Männer.

 

MN Warum sprayen sie?
SW Eins vorweg: „Sprayen“ sagen nur die Außenstehenden. Die Community spricht von „writen“ und sieht sich als „Writer*innen“.

Was in der Community vor allem zählt, ist das „Werk“, das Graffiti. Anders als in der etablierten Kunst sind die Graffiti-Writer*innen anonym. Etablierte Kunst kann man sich in Galerien oder Museen ansehen, und die Künstler*innen sind bekannt. Bei Graffitis kennt man die Writer*innen meistens nicht, man weiß nicht, wer sie sind. Und genau das ist der Grund, dass so viele Tags gesprüht werden. Das englische Wort „Tag“ bezeichnet die individuelle Unterschrift – die Signatur – der*des Writer*in. So macht sie*er sich in der Community buchstäblich einen Namen.

Ein Graffiti ist ein Kommunikationsmittel: Die Writer*innen wollen mit anderen in Verbindung treten, Aufmerksamkeit auf sich ziehen und ihre „Message“ rüberbringen. Meistens wollen sie sich persönlich ausdrücken, ihre Kreativität ausleben.

Aber historisch gesehen war die Botschaft oft auch eine politische: Denk nur an das berühmte O5, das gegen Ende des Zweiten Weltkriegs von einer Widerstandsgruppe an der Vorderfront des Stephansdoms in den Stein geritzt wurde. Die 5 steht für E, den fünften Buchstaben des Alphabets, und OE stand für Ö, also Österreich. Dieses Graffiti kann man heute noch hinter Glas an der Vorderseite des Doms entdecken.

Eine weitere Kategorie sind Gruppen, die ihr Territorium abgrenzen, z.B. Fußballfans. Im 14. Bezirk in Wien etwa gibt es eine Menge Graffitis in der grünen Vereinsfarbe von Rapid. In Wien-Favoriten wiederum dominieren die violetten der Austria. Das ist eher harmlos, aber in Amerika haben Straßengangs „ihre“ Territorien immer schon gerne mit Graffitis abgesteckt.

Die Menschen außerhalb der Community, also die Allgemeinheit, haben meistens keine Ahnung, worum es bei den Graffitis geht und wer die Writer*innen sind. Aber sie sehen die vielen Schriftzüge auf Flächen, die dafür nicht vorgesehen sind: im öffentlichen Raum, auf Hausfassaden, in Schnellbahnstationen, auf Zügen usw. Bei vielen Menschen stößt das auf Unverständnis und Ablehnung. Sie bezeichnen die Graffiti-Writer*innen als „Schmierer“ oder „Vandalen“. Viele andere wiederum finden Graffitis gut.

 

MN Graffiti-Writing ist in Österreich an bestimmten gekennzeichneten Orten legal, sonst nicht. Wie steht die Community, wie steht die Allgemeinheit dazu? 

SW Die beiden Szenen überschneiden sich zum Teil: Manche Graffiti-Writer*innen sprühen sowohl an legalen als auch an illegalen Orten. Andere machen nur das eine oder nur das andere.

Die meisten sehen Initiativen wie „Wienerwand“ positiv: Die Stadt Wien bietet Graffiti-Flächen an, die völlig legal bearbeitet werden können. Sie sind mit dem Symbol der „Wiener Taube“ gekennzeichnet. Ähnliche Projekte gibt es auch in den anderen Bundesländern.

Es ist eine Win-win-Situation für alle: Die Community kann sich ungehindert ausleben, und die Normalbürger*innen freuen sich, dass die Sprayer*innen Buntheit und Fantasie in eher unattraktive Orte hineinbringen.

 

MN Wenn es legale Plätze gibt, warum sprayen viele Graffiti-Writer*innen nach wie vor an Orten, an denen es nicht erlaubt ist? 
SW Es hat mit dem Gefühl von Freiheit und Grenzüberschreitung und mit der Lust, den öffentlichen Raum zu „erobern“, zu tun. Nach dem Motto: Die Stadt gehört uns allen. Und ich möchte ihr „meinen Stempel aufdrücken“.

Eine starke Motivation ist auch der Thrill: das Abenteuer und das Risiko – denn man könnte ja auch erwischt werden. Außerdem gehört es zum Wesen der Graffiti-Kunst, dass sie „schnell“ entsteht, dass sie ein kurzes, rasch hingesprühtes Statement ist. Und das wiederum ist eine kreative Herausforderung für die*den Writer*in.

 

MN Einige Künstler*innen wie Keith Haring, Jean-Michel Basquiat und Banksy haben mit Graffitis begonnen und sind weltbekannt geworden. Haben das Graffiti-Künstler*innen hierzulande auch geschafft? 
SW Ein gutes Beispiel ist der aus der Steiermark stammende Nychos, der nach wie vor Graffitis, aber auch Street-Art und Illustrationen macht. Nychos stellt inzwischen in aller Welt aus. Seine Figuren sind vor allem dafür bekannt, dass er auch ihr Körperinneres malt, als wären sie durchsichtig. Also beispielsweise mit Querschnitten, Skelett oder Eingeweiden. Er erklärt das damit, dass er in einer Familie von Jäger*innen aufgewachsen ist. Da war es ganz normal, dass man das geschossene Wild selbst ausgeweidet hat.

 

MN Du betreibst die Website spraycity.at. Worum geht es dabei? 

SW Spraycity ist eine Plattform für die Community. Wir setzen uns für zusätzliche legale Flächen ein, geben Workshops zum Graffiti-Writing und haben einen Onlineshop mit Publikationen zum Thema. Denn es wird zwar viel publiziert, aber das meiste davon kommt nicht in den normalen Buchhandel.

Außerdem dokumentieren wir Graffitis. Wir streifen durch die Stadt, schauen, welche neuen Graffitis es gibt, fotografieren und datieren sie. So halten wir den jeweils aktuellen Zustand fest. Es ist nämlich eine Eigenheit von Graffitis, dass sie häufig übermalt werden und dann weg sind. Das ist ein Unterschied zur bildenden Kunst: Wenn ein*e Künstler*in ein Bild malt, dann tut sie*er das normalerweise für „die Ewigkeit“. Das heißt, es ist nicht vorgesehen, dass es übermalt wird. Bei Graffitis kann aber genau das passieren – und das tut es auch tagtäglich. Graffiti ist eine vergängliche Kunst.

Um die vorhandenen Graffitis zu dokumentieren, ist das Projekt Indigo ins Leben gerufen worden: Dabei geht ein Team einmal in der Woche das mehr als drei Kilometer lange Areal des Wiener Donaukanals ab und fotografiert die neu hinzugekommenen Graffitis. Der Donaukanal ist seit über 40 Jahren ein „Hotspot“ der Graffiti-Malerei: Jeder Quadratzentimeter ist dort bemalt und immer wieder übermalt worden.

Das Projekt besteht bereits seit 2021, und dadurch ist nicht nur dokumentiert, wie die Wände jetzt aussehen, sondern auch, wie sie früher ausgesehen haben. So gut wie jede Stelle hat mehrere „Schichten“ an Übermalungen. Indigo wird von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften gefördert. Die beteiligten Institutionen sind u. a. das Ludwig Boltzmann Institut, die Technische Universität Wien und wir von der Spraycity. 

Piece auf der Rechten Wienzeile.

© Stefan Wogrin

Nychos macht in der Zwischenzeit Street Art und Illustrationen in aller Welt.

© Stefan Wogrin

Throw Up

© Stefan Wogrin

Tags

© Stefan Wogrin

Colin Linde

Colin Linde sprüht mittlerweile ganz legal, bleibt aber immer noch gern inkognito.

© Colin Linde

Der aus Göttingen stammende Colin Linde CL war illegaler und später legaler Sprayer. Er ging auf die Kunstuni Linz und zog dann nach Wien. Heute macht er Graffiti- und andere Kunst und leitet seine eigene Galerie, die auch mit Graffitis zu tun hat. Gründe genug, ihn eingehend zu befragen.

 

MN Wie kamst du zum Graffiti-Writing?

CL Ich bin in der deutschen Stadt Göttingen aufgewachsen, und Ende der 1990er Jahre – ich muss noch in der letzten Klasse Volksschule gewesen sein – waren plötzlich immer mehr Graffitis im Straßenbild zu sehen. Das Wort kannte ich damals noch gar nicht, aber mir fiel auf, dass immer wieder dieselben Namen und Symbole an verschiedenen Orten auftauchten. Und zwar nicht nur in Göttingen, sondern auch auf Autobahnbrücken und in Nachbarstädten. Das begann mich zu faszinieren. Ich besorgte mir Graffiti-Magazine auf VHS-Kassetten – einem Speichermedium, das es schon lange nicht mehr gibt. Dann knüpfte ich im Skatepark erste Kontakte zu Writer*innen. Es ist ja eine gewisse Überschneidung zwischen Skater*innen und Writer*innen vorhanden: Beide Gruppen erobern sozusagen den öffentlichen Raum. Sie stellen die Frage: Wem gehört die Stadt? Und beantworten sie unübersehbar gleich selbst: Uns.

Graffiti-Writer*innen, die schon etwas älter waren, gaben mir Tipps, was man braucht und wie man es macht. Und irgendwann, so mit 12, 13 Jahren, begann ich selbst zu sprayen.

 

MN Was war für dich die Motivation, Graffiti zu machen? 

CL Wie die meisten jugendlichen Writer*innen wollte ich mir mithilfe meines Tags, meines eigenen Schriftzugs, einen Namen machen und in der Community bekannt werden.

Außerdem hatte es einen ganz speziellen Reiz, allein oder mit anderen in der Nacht herumzustreifen und zu sprayen: Es war aufregender, intensiver und abenteuerlicher als irgendetwas, das man bei Tageslicht tun konnte. Schließlich bestand ja auch das Risiko, dass man aufgegriffen würde. Das Ganze hatte viel mit Adrenalin – dem intensiven Gefühl, das wir in Extremsituationen haben – zu tun. Dieses Gefühl wollten wir immer wieder haben – es war ein bisschen wie eine Sucht.

 

MN Mit welcher Art von Graffiti hast du begonnen? 

CL Meine erste Arbeit war ganz legal, ich bemalte die Scheune der Eltern eines Schulfreunds. Und da merkte ich, dass es mir Spaß machte, großformatig zu arbeiten. Als Nächstes kam eine Brücke an der Bundesstraße an die Reihe … Ich arbeitete allein, aber auch mit anderen Writer*innen. Wir trafen uns nach der Schule im Skatepark, packten unsere Skizzenhefte aus und begannen zu zeichnen. Erst in einem zweiten Schritt – wenn das Konzept bereits ausgearbeitet war – fingen wir an zu sprühen.

Gemeinschaftlich zu arbeiten ist etwas, das unter Graffiti-Writer*innen und Mural-Artists häufiger vorkommt als sonst in der bildenden Kunst. Die Freude am gemeinsamen Sprayen mit anderen ist auch mir bis heute geblieben.

 

MN Wie kam es dazu, dass du vom illegalen aufs legale Sprayen wechseltest? 

CL Eines Tages wurde ich erwischt, es kam zu einer Gerichtsverhandlung, ich wurde zu 80 Stunden Gemeinschaftsarbeit verdonnert, und meine Eltern mussten ein paar Tausend Euro Bußgeld bezahlen.

Seither habe ich nie wieder illegal gesprayt, und ich kam schnell drauf, dass ich einfach viel mehr Möglichkeiten hatte, wenn ich an erlaubten Plätzen sprühte: Erstens hatte ich keine Eile, weil ich nicht in Gefahr war, geschnappt zu werden. So konnte ich in aller Ruhe meine Konzepte entwickeln. Und zweitens nutzte ich das Tageslicht und arbeitete dadurch viel besser mit Farben. In der Nacht hast du einfach zu wenig Licht, um die Farben genau auseinanderzuhalten. Insgesamt fühlte ich mich in meiner künstlerischen Arbeit letztlich freier als vorher.

 

MN Wie würdest du deinen Stil beschreiben?

CL Meine Arbeiten sind sehr grafisch, sehr abstrakt. Ich arbeite viel mit geometrischen Formen und mit Farben. Ich gehe nach wie vor viel von meinem Tag „Toyz OneTwo“ aus, aber auf sehr „dekonstruierte“, das heißt verfremdete und nur noch ansatzweise erkennbare Weise. Die Buchstaben lösen sich sozusagen in abstrakte Formen auf. Oft sind auch angedeutete Berggipfel mit dabei, denn seit ich in Österreich lebe, liebe ich die hiesige Bergwelt.

Wie das Graffiti letztendlich aussieht, hängt auch vom Umfeld ab. Ich lasse mich davon anregen, was das für ein Ort ist, welche Art von Architektur und welche „Stimmung“ er hat.

Außer Graffitis schaffe ich Skulpturen und Murals und male auch auf Leinwand.

 

MN Graffiti-Künstler*innen, die legal im öffentlichen Raum agieren, und jene, die es illegal tun: Sind das verschiedene Gruppen? 

CL Die Grenzen sind sicherlich fließend, und viele – so wie ich – wechseln irgendwann von illegal auf legal. Aber es sind schon unterschiedliche Motivationen: Die illegalen Writer*innen wollen sich eher mit ihrem Style einen Namen in der Community machen. Den legalen geht es mehr darum, sich künstlerisch auszuprobieren und weiterzuentwickeln.

Man darf nicht vergessen, illegales Sprayen ist tendenziell flüchtig und wenig ausgearbeitet: Dadurch, dass man erwischt werden könnte, hat man kaum die Möglichkeit, sein Graffiti genau und detailliert auszuarbeiten. Das ist ein großer Vorteil des legalen Arbeitens.

 

MN Es gibt Initiativen der Bundeshauptstädte, Graffiti-Writer*innen Orte zur Verfügung zu stellen. Ist das eine gute Lösung, sodass man sich sowohl künstlerisch ausdrücken als auch in der Legalität bleiben kann?

CL Das sind auf jeden Fall gute Initiativen, die „Wienerwand“ z.B. umfasst eine der größten Flächen in Europa. Meiner Meinung nach sollte es viele Flächen für erlaubte Graffitis geben, ansonsten haben wir im öffentlichen Raum ja nur Werbung! Trotzdem glaube ich, dass illegale Graffitis nie ganz verschwinden werden.

 

MN Wofür steht „Toyz OneTwo“, dein Tag als Graffiti-Künstler?

CL Ich habe mein Tag früher ca. alle zwei Jahre geändert, aber bei „Toyz OneTwo“ bin ich geblieben. „Toys“ ist Graffiti-Jargon für Anfänger*innen, für unerfahrene Writer*innen. Und „OneTwo“ ist das Kollektiv. Das heißt, die Gruppe von Graffiti-Artists, mit der ich immer wieder zusammenarbeite.

 

MN Du hast in deiner Jugend Graffitis gesprayt, zuerst illegal, später legal. Wie ging es weiter, bist du in der einen oder anderen Form dabeigeblieben?

CL Ja, ich bewege mich nach wie vor in dieser Welt. Im Jahr 2005 übersiedelte ich wegen meiner damaligen Freundin nach Österreich und lebte in Linz.

Das war ein Glücksfall für mich, denn dort gibt es eine sehr lebendige Szene, insbesondere dank der Mural Harbor Gallery. Das ist eine Freiluftgalerie am Linzer Hafen, wo sich alle Arten von „Urban Art“, sprich von Straßenkunst oder Kunst im öffentlichen Raum, frei entfalten können: von Graffitis in ihren verschiedenen Ausprägungen bis hin zu Murals, also großformatigen Wandmalereien.

Das jahrelange Graffiti-Writing und das Experimentieren mit Farben und Formen – das hatte schon lange mein Interesse an bildender Kunst geweckt. Und so studierte ich Bildhauerei und transmediale Kunst an der Kunstuni Linz in der Klasse der Künstlergruppe Gelitin.

Dort hatte ich die Möglichkeit, mich in vielfältiger Weise und in den verschiedensten Medien künstlerisch auszudrücken. Interessanterweise nützte mir mein „Vorleben“ als Graffiti-Artist dort gar nichts. Stattdessen machte ich viele Skulpturen auf Plätzen. Und so erkannte ich, dass alle meine Arbeiten einen Bezug zum öffentlichen Raum hatten und dass es das war, was ich wirklich wollte: nicht im Atelier und für mich arbeiten, sondern draußen und mit und für Menschen.

Mein Werdegang ist gar nicht so außergewöhnlich: Diejenigen, die das Style-Writing so richtig „packt“, bleiben oft dabei, entwickeln sich weiter – und irgendwann machen sie dann Kunst.

Seit 2015 lebe ich in Wien. Ich bin nach wie vor als Graffiti-Künstler tätig und betreibe seit 2016 zusätzlich eine Galerie, die Künstler*innen mit Graffiti-Background vertritt. Hier habe ich bisher 60 Ausstellungen organisiert. In Österreich bin ich der Einzige, der aus dieser Szene kommt und eine Galerie betreibt. Das sind nun mal meine Wurzeln!

Außerdem leite ich eine Agentur, die Aufträge an die von mir vertretenen Künstler*innen vermittelt. Wenn z.B. ein Hotel Kunstwerke ankaufen möchte, organisiere ich das.

 

MN Deine Galerie nennt sich Oxymoron, das ist Altgriechisch für Begriffe, die Gegensätzliches in sich enthalten, z.B. „bittersüß“ oder „schaurig-schön“. Was hat es damit auf sich, und welche Art von Kunst stellst du dort aus? 

CL Der Galeriename spielt tatsächlich auf scheinbare Gegensätze an: Ich bin z.B. sowohl Künstler als auch Kurator; oder: Graffitis werden oft nicht als Kunst angesehen – aber wir geben ihnen Raum. 

Colins „Tag“ Toyz zwischen bildender Kunst und Signatur.

© Colin Linde

Noch ein Toyz-„Tag“ von Colin.

© Colin Linde

Graffiti

Quiz

Kennst du dich aus in der Welt der Graffitis? Finde es heraus!

1

Was ist ein Throw-up?

A

Ein rasch hingesprühtes, aus mehreren Buchstaben bestehendes Graffiti

B

Das ist, wenn sich Graffiti-Writer*innen übergeben müssen

C

Ein Farbbeutel, der gegen die Wand geschleudert wird

Stimmt! Throw-ups bestehen aus mehreren Buchstaben hintereinander, die oft so „verfremdet“ werden, dass man sie kaum lesen kann. 

2

Wer oder was ist Nychos?

A

Eine bei Sprayer*innen beliebte Marke von Sprühdosen

B

Eine Gottheit der griechischen Mythologie

C

Ein ursprünglich aus Österreich stammender, international bekannter Graffiti-Writer und Street-Artist

Der aus Bruck an der Mur stammende Nychos ist heute in aller Welt gefragt. 

3

Was ist die „Wienerwand“?

A

Ein Single-Treffpunkt der Wiener*innen

B

Eine Initiative der Stadt Wien, bei der bestimmte gekennzeichnete Flächen völlig legal mit Graffitis besprüht werden können

C

Eine Absperrung, die den Wienerwald vom Voralpengebiet trennt

Passt. An der Wienerwand können Graffiti-Writer*innen ganz legal arbeiten. 

4

Was ist ein Graffiti, das im öffentlichen Raum unerlaubt auf eine Wand oder Ähnliches gesprüht wird, aus juristischer Sicht?

A

Ein Kavaliersdelikt

B

Eine Erregung öffentlichen Ärgernisses

C

Eine Sachbeschädigung

Genau! Illegales Sprayen ist sicher lustig und aufregend, aber rein juristisch eine Sachbeschädigung. 

5

Viele Leute mögen keine Graffitis an den Wänden und bezeichnen die Graffiti-Writer*innen als „Vandal*innen“. Aber wer oder was waren Vandal*innen eigentlich?

A

Ein Gebirgszug in der Slowakei, gleich hinter den Karpaten

B

Ein früheres germanisches Volk

C

Ein Sortiment verschiedener Insektensprays

So ist es: Die Vandal*innen waren ein germanisches Volk, das mit fremdem Eigentum nicht zimperlich gewesen sein soll.